Objet du mois, novembre 2023

Eine Schöpfung der Aufklärung und der Revolution

 

Für ein Literaturarchiv nicht überraschend, bestehen die Sammlungen des CNL zum größten Teil aus Papier. An der Seite zahlloser Manuskripte, Briefe und Fotografien findet sich indes auch manches textile Dokument. Das sicherlich spektakulärste ist das im Empire-Stil angefertigte Brautkleid der Anne-Marie Richard (1780-1864). Am 10. Februar 1808 heiratete sie Jean Antoine Servais (1778-1859) und waltete fortan als Hausherrin in den Räumen, die seit 1995 das Literaturarchiv beherbergen. Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor, unter ihnen der spätere Staatsmann Emmanuel Servais (1811-1890).

 

Das weit geschnittene Kleid mit hoher Taille, kurzen Puffärmeln und großzügiger Seitenschleppe besticht durch unangestrengte Eleganz. Kein Wunder, dass 1914 Anne-Maries Enkeltochter Félicie das Brautkleid der Großmutter bei der eigenen Verlobung trug. Wie das beiliegende Foto beweist, macht es weitere hundert Jahre später immer noch eine buchstäblich gute Figur. Die nachstehenden Ausführungen nehmen sich vor, dieser zeitlosen Modernität nachzuspüren.

 

Das 18. Jahrhundert war durch einen Modewandel hin zu einfacheren und bequemeren Schnitten sowie leichteren Stoffen geprägt: ein radikaler Bruch mit den rigiden Vorgaben vorangegangener Epochen, denen zufolge nicht die Kleidung dem Körper, sondern – z. B. durch Korsettierung und die Verwendung von Reifröcken oder Hüftpolstern – vielmehr der Körper den Kleidern angepasst wurde. Die Hinwendung zu körpergerechter(er) Kleidung hing eng mit dem Frauenbild der Aufklärung zusammen, das – nicht zuletzt durch Literatur, etwa die Romane Julie ou la Nouvelle Héloïse von Jean-Jacques Rousseau (1761) oder Paul et Virginie von Bernardin de Saint-Pierre (1788) propagiert – Schlichtheit und Natürlichkeit den Vorzug gab. Gleichermaßen einflussreich war die Antikenbegeisterung, die, ausgelöst durch die Ausgrabung von Pompeji (1738) bzw. Herculaneum (1748) und die Geburt der Archäologie als wissenschaftliche Disziplin, vornehmlich durch die Arbeiten Johann Joachim Winckelmanns, fortschrittlichen Kreisen als nachahmenswertes politisches und kulturelles Vorbild galt.

 

Vorreiter der neuen Mode war zunächst England. Mit der allgemeinen Anglomanie-Welle erreichte sie um 1750 Frankreich, wo sich die Kleidervorschriften des Ancien Régime bereits gelockert hatten. Sie wurden durch die Französische Revolution (1789), die den Aufbruch ins bürgerlich-demokratische Zeitalter auch mittels Kleidung vorführen wollte, vollständig abgeschafft. Dieser zweifachen Befreiung – von den Zwängen der Ständegesellschaft bzw. der sie abbildenden Kleiderordnung einerseits und dem artifizierten Körper andererseits – folgten Revolutionsanhänger in ganz Europa. Für Furore sorgte vor allem das aus nahezu transparentem Baumwollmusselin geschneiderte und oft ohne Unterwäsche getragene Kleid à la grecque des Direktoriums (1795-1799). Das Konsulat (1799-1804) und das Kaiserreich (1805-1814) kehrten zwar (aus Gründen der ›Sittsamkeit‹ und sozialen Differenzierung, aber auch zum Schutz der Lyoner Seidenweberei) zu aufwendigeren Stoffen und Ornamenten zurück, behielten aber die charakteristische Silhouette bei. Sie gilt längst als vestimentäres Symbol der napoleonischen Zeit. Mit dem sogenannten Delphos-Kleid (ca. 1907) entwarf der spanische Modeschöpfer Mariano Fortuny einen kongenialen Nachfolger der robe à la grecque. 1993 wurde dieses Modell durch die heute noch serienmäßig hergestellte Linie Pleats please des Japaners Issey Miyake seinerseits aktualisiert.

Daniela Lieb

 

Brautkleid, um 1808.

Chamoisfarbene Seide, vermutlich Lyoner Herstellung.

Länge vorne 156 cm, Länge hinten 124 cm, Brustunterumfang 74 cm, Schulterbreite 46 cm,

Ärmellänge 25 cm, Saum 284 cm.

CNL OBJ-126.

Foto: Jean Meder. Model: Emily Broers.

 

 

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